In derselben Nacht stand Jakob auf.
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Er weckte seine beiden Frauen, die beiden Mägde und seine elf Söhne.
Denn er wollte den Jabbok an einer flachen Stelle überqueren.
Zuerst ließ er die Frauen und Kinder den Fluss überqueren. Dann brachte er sein Hab und Gut hinüber.
Er selbst blieb allein zurück.
Plötzlich war da jemand,
der bis zum Morgengrauen mit ihm kämpfte.
Aber er sah, dass er Jakob nicht besiegen konnte.
Da packte er Jakob am Hüftgelenk, sodass es beim Ringen ausgerenkt wurde.
Dabei sagte er:
»Lass mich los! Denn der Tag bricht an.«
Jakob entgegnete:
»Ich lasse dich erst los, wenn du mich gesegnet hast.«
Der andere fragte Jakob:
»Wie heißt du?«
Er antwortete: »Jakob.«
Da sagte der andere:
»Von nun an sollst du nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel, ›Gotteskämpfer‹.
Denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und bist Sieger geblieben.«
Jakob bat: »Sag mir doch deinen Namen!
«Er erwiderte:
»Wozu fragst du noch nach meinem Namen?«
Und er segnete ihn dort.
Jakob nannte den Ort Penuel, das heißt: Angesicht Gottes.
Denn er sagte:
»Ich habe Gott von Angesicht zu Angesicht gesehen und bin am Leben geblieben.«
Als Jakob Penuel verließ, ging gerade die Sonne auf.
Er hinkte wegen seiner verrenkten Hüfte.
Man kann es kaum glauben, aber es ist schon wieder eine Woche her, dass wir hier an dieser Stelle Ostern gefeiert haben. Und heute ist der erste Sonntag nach Ostern. Sein Name erinnert an einen Horrorfilmklassiker: Quasimodogeniti. Nicht zu verwechseln mit dem Glöckner von Notre Dame.
„Quasimodogeniti – wie die neu Geborenen“ so heißt der Tag heute im Kirchenjahr. Eine Woche nach Ostern, da sollen wir Menschen spüren, das die Auferstehung auch mit uns etwas gemacht hat. Uns verwandelt hat, so dass wir eben „wie neu geboren“ sind.
Hm… wie ist das aber nun. So richtig neu geboren fühle ich mich gerade nicht. Und ihr? Neu geboren? Verwandelt? Mit neuem Leben beschenkt? Abgesehen davon, dass ich so ein Gefühl gar nicht auf Kommando haben kann, bin ich eine Woche nach Ostern immer noch ziemlich der alte. Denn die Welt hat sich ja nicht verändert. Die Probleme sind die gleichen, und gefühlt kommen täglich neue dazu.
In der Ukraine wird weiter getötet, die überlebenden Opfer des Erdbebens in Syrien und der Türkei sind immer noch obdachlos. Im Mittelmeer ertrinken weiter jeden Tag Flüchtlinge und das mit dem Klimawandel hat sich über Ostern auch nicht einfach in Luft aufgelöst. Ehrlich, ich kann mir vorstellen, dass es den meisten Menschen schon in der frühen Christenheit so ging, dass sich mit Ostern nicht alles Schlag auf Schlag geändert hat. Das tägliche Ringen um Worte, um Perspektiven, um Lösungen oder Trost, ja auch das Ringen mit Gott angesichts persönlicher Probleme und dieser Welt, das geht weiter. Auch eine Woche nach Ostern…
Manchmal komme ich mir vor wie Jakob aus der Geschichte. In der Nacht wird er überfallen. Ein Unbekannter kämpft mit ihm. Wer es ist und wo er herkommt, spielt keine Rolle. Der Unbekannte ist einfach da, bedrohlich. Und stark. Sie kämpfen die ganze Nacht hindurch bis zum Morgengrauen. Ganz schön unheimlich, oder? Dann wird irgendwie klar, dass es keinen Sieger gibt. Jakob ist nicht unterlegen, aber er kann den Angreifer auch nicht abschütteln. Schließlich wird er an der Hüfte verletzt. Eine Patt-Situation, möchte man meinen.
Und dann geschieht was, völlig unerwartet: Der Unbekannte bittet: „Lass mich los, der Tag bricht an.“ Merkwürdig, als ob es sich hier um einen Vampir handelt, der das Tageslicht nicht verträgt. Und Jakob sagt: „Ich lasse dich erst los, wenn du mich gesegnet hast.“ Klar, diese Geschichte habe ich schon viele Male gehört. Aber wenn ich jetzt so drüber nachdenke, dann ist das doch komisch.
Warum will Jakob gesegnet werden? Vielleicht erklärt es sich ein bisschen, wenn man seine Geschichte kennt: Jakob ist ja ein Erbschleicher. Er hat sich den Segen seines blinden Vaters an dessen Sterbebett abgeholt. Hat sich verkleidet als sein älterer Bruder Esau, dem der Segen eigentlich zugestanden hätte. Dieser „Segen“ war damals sowas wie heute ein Testament. Wer den Segen des Vaters hatte, durfte erben. Zumindest als männlicher Nachkomme. Und im Falle von Jakobs Vater war das Erbe nicht unerheblich. Tiere, Diener, Zelte – alles, was so ein Patriarch wie der alte Isaak halt besaß. Das hatte sich Jakob mit seinem Betrug erschlichen. Illegal! Es war Fake. Deswegen ist er sein ganzes Leben lang vor dem Bruder auf der Flucht. Und jetzt, kurz bevor sie sich wiedersehen, in der Nacht davor, passiert der Kampf mit dem Unbekannten.
Vielleicht verstehen wir so besser, warum Jakob am Ende dieser Nacht den Segen wollte. Einen Segen, der wirklich nur für ihn ist. Und tatsächlich, der Unbekannte segnet ihn. Aber damit nicht genug. Er gibt Jakob einen neuen Namen. Von jetzt an soll er „Israel“ heißen, das bedeutet „Gotteskämpfer“. Und spätestens da kann man stutzig werden. Wenn der unbekannte Angreifer bisher ja wirklich irgendein Räuber oder ein Vampir oder sonst was gewesen sein könnte, so lässt der neue Name einen anderen Schluss zu.
Denn wenn Jakob mit jemandem gerungen jat und hinterher „Gotteskämpfer“ genannt wird. Dann könnt ihr mal mit überlegen, was das bedeuten soll. Richtig! Also war es wohl niemand anderes als Gott, mit dem er gekämpft hat.
Ich verstehe diese Geschichten aus der Bibel ja nicht immer wörtlich. Was bedeutet es, wenn Jakob mit Gott kämpft? Was bedeutet das für mich? Für uns? Für die Zeit, in der wir leben? Zunächst mal bedeutet es doch, dass man mit Gott überhaupt kämpfen kann oder manchmal sogar muss. Der Gott der Bibel ist keine abstrakte Idee von etwas Übersinnlichem. Gott ist in so vielen Geschichten ein echtes Gegenüber, fast schon mit menschlichen Seiten. Mit Gott kann man verhandeln wie Abraham über das Schicksal von Sodom und Gomorra. (Noch so eine abgefahrene Geschichte.) Mit Gott kann man weinen und lachen, sich freuen, klagen und sogar Mauern überspringen. Das zeigen uns die vielen Psalmen im Ersten Testament.
Aber das hier ist neu: Mit Gott kämpfen, ringen. Ich kann damit was anfangen. Denn wie schon gesagt, manchmal fühlt es sich so an, wenn ich versuche, diese Welt mit meinem Glauben irgendwie zusammen zu bringen. Ich möchte mit Gott ringen darum, ob eine junge Frau, die ich in der letzten Zeit beerdigen musste, nicht doch noch ein paar Jahre mehr hätte leben könnte. Ich ringe mit Gott, warum es uns als Kirche so schwer fällt, bei den Leuten locker und zeitgemäß rüberzukommen. Warum wir so vielen Menschen scheinbar nichts mehr zu sagen haben für ihr Leben. Jeder einzelne Kirchenaustritt ist wie ein Schlag auf die Hüfte. Warum nur, Gott, ist es so schwierig, leicht und frei von deiner Liebe zu sprechen und danach zu leben?
Ja, mit dem Gotteskämpfer kann ich echt was anfangen. Auch, weil er am Ende einen richtigen Segen bekommt. Und dieser Segen verändert ihn. Jakob heißt ab sofort „Israel“. Das bedeutet für mich: Die Begegnung mit Gott und Gottes Segen hinterlässt Spuren. Nicht nur im Namen. Von nun an, seit der Begegnung in jener Nacht wird Jakob-Israel hinken und immer ein Bein hinter sich herziehen. Ein bleibender Schaden, wenn man so will.
Aber noch was verändert sich: Die Geschichte des Erbschleichers geht weiter und kommt zu einem guten Ende. Am nächsten Tag trifft Jakob-Israel auf seinen Bruder Esau. Er hat mächtig Bammel vor der Begegnung und macht sich auf das Schlimmste gefasst. Doch Esau hat keine Rachegedanken mehr. Er freut sich einfach, seinen „kleinen“ Bruder wiederzusehen und läuft ihm mit offenen Armen entgegen. Ohne Leibwächter oder Krieger. Einfach so.
Ich finde den Gedanken schön, dass auch dies eine Folge des Segens sein könnte: Israel überwindet seine Angst und stellt sich der Herausforderung – nur um festzustellen, dass seine Befürchtungen gar nicht der Realität entsprechen. Er wagt den Schritt hinein in einen Konflikt. Vielleicht hat ihm der Segen ja Mut gemacht. Vielleicht hat er den Segen auch gebraucht, um wirklich diesen Fluss zu überqueren.
Und vielleicht brauchen wir alle manchmal den Segen, um in unserem Leben die Jabboks zu überqueren, um einen Schritt auf andere zuzumachen. Ich denke, ja, die Konflikte und Probleme sind auch nach Ostern nicht einfach verschwunden. Die Welt hat sich nicht verändert. Aber wir haben uns verändert. Wir sind gesegnet durch die Auferstehung und können die schwierigen Dinge angehen, die wir so lange vor uns hergeschoben haben. Und manchmal stellst du dann fest, dass ein neuer Tag angebrochen ist. Los geht’s! Amen.