Die Bundestagswahl ist gerade mal zwei Wochen vorbei und noch immer liegen mir die Sprüche des Wahlkampfs in den Ohren. Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber all diese Forderungen, wie man die Lage unserer Gesellschaft verbessern könnte, wie die Wirtschaft wieder auf die Beine kommt, all das hat mich etwas müde gemacht.
Forderungen gibt es doch schon so viele, auch jenseits der großen Politik. In der Schule zum Beispiel muss die Lehrerin immer wieder ihre Schülerinnen und Schüler ermahnen. „Nimm die Füße vom Tisch“, „streng dich mehr an“, „konzentrier dich doch mal“, „hör auf, deine Mitschülerin zu hänseln“ und so weiter… Ich habe manchmal fast den Eindruck, dass der Schulalltag eigentlich nur aus Ermahnungen besteht. Das geht für die Jugendlichen in der Familie weiter. Pubertät ist, wenn die Eltern anfangen, schwierig zu werden, immer an einem rummäkeln. Und auch in der Gemeinde ist es dasselbe. Wir waren gerade auf Konfi-Freizeit, da ist mir das noch einmal besonders aufgefallen.
Aber nicht nur die Kinder und Jugendlichen, sondern auch wir Erwachsene werden immer und immer wieder mit Forderungen konfrontiert, was wir alles tun und lassen sollen. Appelle an unser Gewissen, an unseren Geldbeutel. Wir hören sie vom Freundinnen und Freunden, Verwandten, vom Arbeitsamt, die Parteien habe ich schon genannt. Das Finanzamt fordert auch gerne mal was und die Kirchen sowieso. Wir müssen, wir sollen, oder wie es öfters in Predigten heißt: Wir sollten doch Gutes tun, wir müssten teilen und abgeben. Sollen müssen – müssen sollen.
Ja ich bin müde von all diesen Aufrufen.
Ich weiß doch auch so, dass ich Gutes tun muss. Ich spüre, dass ich mich fair verhalten soll gegenüber meinen Mitmenschen, dass ich versuchen soll, mich einzusetzen gerade da, wo es eben geht. In der Nachbarschaft, in der Familie, in der Stadt. Ich weiß es, und doch bin ich oft ein bisschen überfordert damit. Gutes tun, das braucht Mut. Manchmal traut sich einer wirklich, Gutes zu tun, etwa der sozial schwachen Familie eine Wohnung zu vermieten oder sich um Flüchtlinge zu kümmern.
Oft genug, ist man dann aber der Dumme, denn – wie das Sprichwort sagt – „Undank ist der Welten Lohn“. Oft genug danken es die Menschen einem nicht. Diese Erfahrung machen viele, die helfen wollen. Auch ich habe das bei meiner Arbeit mit Flüchtlingen in Italien immer wieder erlebt. Wie schnell ist dann das Bisschen Mut, das ich mühsam aufgebracht habe, wieder verflogen. Gutes tun, mit dem Hungrigen sein Brot teilen… Ach, lieber nicht. Das bringt doch gar nichts.
Von solchen Erfahrungen berichtet auch das Buch Jesaja. Als das Volk Israel aus dem babylonischen Exil nach Hause zurückgekehrt war, wurden die Probleme in der Bevölkerung immer größer. Reiche wurden reicher, Arme immer ärmer. Das klingt sehr aktuell. Nun richtet sich Jesaja an die Wohlhabenden im Volk, an die, die genug zu essen haben, die sogar im Überfluss leben. Im Predigttext für das heutige Erntedankfest heißt es:
Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut! Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des HERRN wird deinen Zug beschließen. Dann wirst du rufen und der HERR wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich. Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag. Und der HERR wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt. Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: »Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne«
Nun könntet Ihr sagen: Ist ja alles schön und gut. Aber was da bei Jesaja gesagt wird, ist doch nichts anderes als eine weitere Liste mit Forderungen und Über-Forderungen. Was soll denn daran anders sein, als bei den Parteien oder den Lehrern?
Nun, ich glaube, es ist die Sprache, die hier gesprochen wird. Eine Sprache, die das Herz anrührt, weil sie nicht einfach einen Katalog politischer Forderungen aufstellt, sondern weil sie um uns wirbt. Jesaja spricht eine große Verlockung aus, lädt uns ein, anders zu leben als wir es tun. Der Text sagt nicht: So und so musst du dich verhalten. Nein. E sagt: So kann man leben. Diese Sprache verlockt zu einem reichen und starken Leben. Sie beschreibt Menschen, die wie Könige auftreten: Ihre Gerechtigkeit geht vor ihnen her und Gottes Herrlichkeit bildet die Nachhut.
Menschen, die wie frische Brunnen sind und wie Licht am Mittag. Menschen, gewöhnliche, normale wie wir alle, die zu Bauleuten des Glücks geworden sind. Jesaja spricht hier vom Reichtum des Lebens. Spar dich nicht auf, sagt er. Dein Reichtum wächst mit deiner Verschwendung. Es ist der Reichtum, ein Mensch zu sein, nicht der Reichtum, etwas zu haben. Ein solcher Reichtum, der durch das Haben von Dingen entsteht, ist ein Reichtum an etwas Totem und Erstarrtem. Es ist ein Reichtum, der dadurch zustande gekommen ist, dass andere arm gemacht sind. Solange Unrecht und Unterdrückung nicht aufhören, solange wird es diesen Reichtum geben.
Der reiche Mensch, von dem Jesaja hier spricht, der dem Hungrigen sein Herz zeigt und mit dem Elenden sein Brot teilt, dieser Mensch ist reich. Nicht im Sinne des Habens, sondern im Sinne der menschlichen Beziehung. Er hat viele Freundinnen und Freunde. Das ist ein Reichtum, der nicht über die Unfreiheit und Armut der anderen hinweg sieht, so als ginge uns das nichts an. Der reiche Mensch, wie Jesaja ihn sieht, nimmt das Unrecht, die Unterdrückungen, die Zerstörung von Leben in der Gesellschaft wahr. Aber er findet sich damit nicht ab. Sein Leben hat eine Richtung, und sie geht dahin, dass alle Menschen gut Leben können. Wer viele Schwestern und Brüder gewinnt, wird reich.
Dieser Text ist reines Evangelium am heutigen Erntedankfest. Wunderschön finde ich die Bilder, mit denen diese Einladung zum Leben beschrieben wird. Es ist ein Leben ohne Verachtung des anderen, und ohne Verachtung meiner selbst. Ein Leben ohne Angst, ein reiches Leben, in dem jede Stunde zählt. Gerade heute, an Erntedank tut es mir gut, nicht schon wieder überfordert zu werden. Ich möchte Danke sagen für die Fülle in dieser Welt, für mein ganzes Leben, das eine Ernte ist, die Gott gesät hat.
Wenn ich diesen Text höre, werde ich eben nicht unter neue Forderungen gestellt, Forderungen, die richtig sind und mich doch nur abschrecken – ich kann sie ja nicht erfüllen. Nein im Gegenteil, ich werde zum Leben verlockt. Ich bekomme neuen Mut, denn nun weiß ich: Wir Menschen sind stark, wir sind unentbehrlich. Ohne uns wird sich nichts verändern an dieser Welt. Das ist ein Geschenk, keine Forderung. „Dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie ein Wasserquell, dessen Wasser nie versiegt.“
So soll es sein, so wird es sein. Ich werde nicht mehr ein hilfloser, ängstlicher Mensch sein. Der Sinn des Lebens wird offen und klar vor mir liegen. „Siehe, hier bin ich“ sagt Gott. Nicht weit weg, in einer fernen Zukunft oder lange in der Vergangenheit, sondern hier ist der Sinn des Ganzen: Entzieh dich nicht deinen Geschwistern, dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte. Jesaja sagt nichts, was nicht auch an anderen Stellen in der Welt gesagt wird. Macht Schluss mit den Ungerechtigkeiten. Seid menschlich, helft mit, die Welt zu verwandeln.
Aber er formuliert zugleich ein wunderbares Versprechen: Nichts ist sinnlos. Dein Reichtum wächst, je mehr du teilst. Wenn du von deinem Überfluss abgibst, wenn du Leben teilst, dann leuchtet dein Dunkel wie der Mittag.
Amen.