Es ist mitten in der Nacht. In der engen Klosterzelle kauert ein Mönch. Nur schemenhaft ist er in der drückenden Dunkelheit zu erkennen. Er winselt vor sich hin, wirft sich von einer Ecke in die andere und ruft immer wieder: „Nein! Geh weg! Mich kriegst du nicht! Nein!“ Nun schlägt er um sich, windet sich, so als wolle er einen unsichtbaren Gegner abschütteln. „Teufel! Verschwinde!“ schreit er. Immer wilder werden seine Bewegungen bis er sich auf der Erde hin und her wälzt. Irgendwann endlich kommt er zur Ruhe, bleibt auf dem kalten, dreckigen Boden liegen und schluchzt wie ein Kind. In seiner Hand hält er etwas ganz fest umschlungen… es ist ein Kruzifix. An ihm hält er sich fest, das kleine Kreuz beruhigt ihn und lässt ihn Frieden finden.
Diese Szene ist wirklich beeindruckend. Sie stammt aus dem Film mit dem Titel „Luther“, eine erfolgreiche amerikanische Produktion. Mit einer hochkarätigen Besetzung und großem Aufwand wurde versucht, das Leben Martin Luthers zu verfilmen, zumindest seine Entwicklung vom überängstlichen Mönch zum großen Reformator. Heute abend läuft der Film auch im Fernsehen, um viertel nach 8 in der ARD.
Die eindrückliche Szene in der Klosterzelle spielt zur der Zeit, als Luther noch ein junger Mönch ist. Er fühlt sich schuldig vor Gott, nicht gut genug um am jüngsten Tag, dem Weltgericht bestehen zu können. Aus Angst vor der Hölle sucht er verzweifelt nach einem Weg, wie er von Gott angenommen werden könnte, trotz all seiner Fehler.
Zu Beginn des 16. Jahrhunderts ist das eine sehr verbreitete Haltung unter den Gläubigen. Die Hölle, sie wird in leuchtenden Farben ausgemalt. Feuer und Seelenqualen, mit denen die sündigen Menschen für ihre Fehltritte büßen müssen. Angst breitet sich aus, Angst vor Gott, dem Richter.
Die Menschen sind bereit, für ihr „Seelenheil“ alles zu tun. Gebete, Beichten, gute Taten, ja sogar Geld wollen sie bezahlen, um sich und ihre verstorbenen Angehörigen zu retten. Geld, das sowieso schon kaum reicht in den einfachen Familien und doch geben sie reichlich – in der Hoffnung, die Kirche werde ihnen helfen ihre Seelen zu erlösen.
In dieser Zeit also lebt unser „Filmheld“ Luther. Auch er fürchtet sich vor der ewigen Verdammnis, die am Ende der Zeiten droht. Und so fragt er sich immer wieder: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Was muss ich tun, damit ich vor Gott dem Richter bestehen kann? Oft ist er verzweifelt, fühlt sich vom Teufel verfolgt und lebt voller Unruhe, bis ihm eines Tages sein Beichtvater ein Kruzifix schenkt. Er solle doch einfach an den glauben, der am Kreuze hängt – so der Ratschlag des älteren Mönchs. Und schon in der nächsten Nacht, da die Qualen ihn wieder plagen, nimmt Luther das Kreuz in seine Hand und hält sich daran fest. Eine Wende in seinem Leben…
Der Kinofilm stellt diese Wende in der dramatischen Szene dar, die ich eingangs geschildert habe. Die Nacht in der Klosterzelle verändert den jungen „Bruder Martin“ und er beginnt, seine Erfahrung anderen mitzuteilen. Eindrücklich gemacht! Bilder sagen eben mehr als 1000 Worte. Zumindest ist das im Kino so möglich. Zwar hat sich auch der „echte“ Luther mit der Frage nach einem gnädigen Gott gequält. Dabei hat ihm aber weniger das kleine Kruzifix geholfen, als vielmehr ein biblischer Text aus dem Neuen Testament. Der Text, der dem jungen Theologieprofessor in Wittenberg die Augen und das Herz öffnete, steht im Römerbrief im 1. Kapitel, die Verse 16 und 17:
Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben, die Juden zuerst und ebenso die Griechen. Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie geschrieben steht: »Der Gerechte wird aus Glauben leben.«
Aus Glauben leben – was das heißen kann, das möchte ich mit Euch heute bedenken, an diesem Reformationstag 2005. Was ist das überhaupt, Glauben? Wie funktioniert das und an was kann ich glauben? Luther suchte einen gnädigen Gott und er hat ihn gefunden – im Glauben an das Evangelium, also an die Botschaft Jesu von der Liebe Gottes, die allen gilt: „zuerst den Juden, dann den Griechen“ und schließlich allen Menschen.
„Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ Als Luther diese Verheißung liest, wird ihm klar: Die Gnade Gottes, ja Gottes Liebe kann man sich nicht verdienen, nicht mit Geld und nicht mit Gebeten. Man kann dafür keine frommen Werke vollbringen, und seien sie noch so gut.
„Gott glauben“, das hieß für Luther „Gott vertrauen“. Eben darauf vertrauen, dass Gottes Liebe größer ist als alle menschliche Vernunft, alles Aufrechnen und Abwiegen. Unsere menschlichen Verfehlungen, sie wiegen schwer in unserer Welt, aber wenn Gott will, so wird auch der Sünder/die Sünderin leben. Glauben an das „Evangelium“, das heißt darauf vertrauen, dass die Gnade Gottes uns Menschen zuteil wird, völlig unabhängig von unseren Fähigkeiten und Leistungen. Völlig unverdient, sozusagen „gratis“. „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ – in diesem Vers fand Luther und nach ihm die evangelischen Kirchen einen gnädigen Gott.
Und heute? Stellen wir uns, stelle ich mir noch die Frage nach einem gnädigen Gott? Vielleicht liegt es ja auch nur an mir, aber ich merke, dass in unseren Tagen andere Dinge wichtiger sind. Etwa die Frage nach Arbeit, nach sozialer Sicherheit, Gesundheit, Rente. Überall sorgen sich die Menschen um ihre Zukunft, ganz materiell und konkret. Wer solche Sorgen hat, fragt sich nicht: „Gibt es einen gnädigen Gott?“
Nein, ich höre eine ganz andere Frage in meinem Alltag und stelle sie mir auch selbst: „Wie bekomme ich einen gnädigen Menschen?“ Die Rede von Gott ist heute vielen zu abstrakt, zu fremd geworden. Ich treffe Menschen, die sind auf der Suche nach etwas, das sie Gott nennen – und finden es nicht. Sie fragen sehr kritisch nach, wenn es um Gott geht und begnügen sich nicht mehr mit traditionellen Antworten. Einen Menschen aber, der für sie da ist und ihnen Halt gibt – das ist selbst eingefleischten Atheisten wichtig im Leben. Vielleicht das Wichtigste. Und es muss nicht nur einer sein. Ein ganzes Netz von Beziehungen ist gut und trägt weit. Den gnädigen Menschen finden – danach streben viele, danach strebe auch ich.
Ein Mitmensch, der mir nahe ist, der mich achtet und schätzt. Der mir Rückendeckung gibt und Anerkennung. Ein „gnädiger Mensch“, der mich mit liebenden Augen ansieht und über meine Fehler hinweg schaut – das ist es, was ich suche. Ich brauche Bestätigung für mich, mein Leben – gerade auch dann, wenn es mal nicht gut läuft. Es gibt sie, die gnädigen Menschen: Freundinnen und Freunde, Ehepartner, Familie, sie alle sind Menschen, die uns wichtig sind und denen wir wichtig sind. Sie geben mir in so manchen Augenblicken das Gefühl geliebt zu werden, akzeptiert zu sein. Solche „gnädigen Menschen“ kann ich mir nicht selber schaffen. Gut, ich kann sie beeindrucken mit meinen Fähigkeiten und Leistungen. Das macht sie mir aber noch nicht zu wirklichen Gegenübern, die mir – „aus Gnade“ – ihre Freundschaft, ja ihre Liebe schenken, einfach so, „gratis“, wie Gott.
Und auch hier, im Umgang mit meinen Mitmenschen bleibt mir nichts anderes übrig als zu glauben, zu vertrauen. Darauf zu vertrauen, dass sie für mich da sind, wenn ich es brauche. Darauf, dass sie mich nicht vergessen, so selten wir uns auch sehen. Darauf, dass ich aufgehoben bin in unserer Freundschaft.
Vielleicht nennen wir es nicht immer Gott, aber wir Menschen sind angewiesen auf ein Gegenüber, das uns bedingungslos annimmt. Wir brauchen Bestätigung und Anerkennung, und die suchen wir heute vielleicht stärker in unseren menschlichen Beziehungen. Auf sie vertrauen wir, an sie glauben wir. Gewiss, Vertrauen ist nicht immer leicht. Es gibt viele Rückschläge, Schwierigkeiten, Enttäuschungen. Und doch – nur durch Vertrauen entsteht eine tragfähige Beziehung, die uns Leben lässt. Zwischen Eltern und Kindern, zwischen Freundinnen, auch in der Liebesbeziehung gilt: Ohne Vertrauen können wir nicht miteinander leben.
„Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ Nochmal: Vertrauen heißt Glauben. Und das Vertrauen in den „gnädigen Menschen“ – genau darin spiegelt sich der Glaube an den „gnädigen Gott„. Denn hinter jeder menschlichen Beziehung steht letztlich Gott. Ja, Gott scheint durch unsere Beziehungen hindurch, voller Gnade, voller Liebe. Gott begegnet uns als Gegenüber, als Freundin, als Freund. Und wir können oft gar nichts anderes tun, als ihm, als ihr zu vertrauen. So liest sich der Satz aus dem Römerbrief auch heute, fast 500 Jahre nach Luthers Thesenanschlag wie eine Ermutigung zum Glauben, ja wie ein Aufruf zum Vertrauen.
Wir sind angenommen und geliebt bei Gott. Aus dieser Liebe heraus dürfen wir leben und unsere Welt gestalten.
Amen.