Und sie brachten Kinder zu ihm, damit er sie anrühre. Die Jünger aber fuhren sie an. Als es aber Jesus sah, wurde er unwillig und sprach zu ihnen: Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes. Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Und er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie.
„Advent, Advent, ein Lichtlein brennt.“ Wer kennt ihn nicht, den alten volkstümlichen Reim? Mit ihm wurden und werden Generationen von Kindern bei uns auf Weihnachten vorbereitet. Die „Lichtlein“ im Advent sollen helfen, die Zeit des Wartens zu überstehen und die Vorfreude zu steigern. Gerade für Kinder ist das ja eine gewisse Herausforderung, die Zeit bis zum Fest zu überbrücken. Sowieso dreht sich im Advent vieles um die Kinder: Geschenke werden besorgt, Krippenspiele einstudiert, und in so mancher Familie wird der Ablauf des Heiligen Abends sorgfältig geplant, damit die Kinderaugen über den Glanz dieses Festes staunen können. Advents- und Weihnachtszeit – das ist eben auch Kinderzeit.
Ganz zu Recht stehen hier die Kinder im Zentrum. Schließlich feiern wir auch die Ankunft eines besonderen Kindes. Zu nichts Geringerem als der Rettung der Welt ist das Jesuskind bestimmt und wird in seinem Leben Menschen mit der Wirklichkeit Gottes verbinden, die so grundlegend anders ist: Kranke und Traurige, Lahme und Blinde, Alte und Junge, Erwachsene und Kinder erfahren die befreiende Begegnung mit dem Gottesreich. Dabei steht die Geschichte seiner Geburt zwar unter einem hellen und schwierigen Stern. Das Matthäusevangelium erzählt davon, wie die Heilige Familie bald nach der Geburt fliehen muss. Auf Weihnachten folgt die Flucht nach Ägypten. Der Gottessohn als Flüchtlingskind – es bleibt keine Zeit für Romantik und Kitsch.
Dabei hatte der kleine Jesus noch Glück, dass er mit seinen Eltern geflohen war. Wenn er alleine, als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling heute nach Deutschland kommen würde, hätte er noch weniger zu lachen. Dann bliebe ihm die Unterkunft in einer Erstaufnahmeeinrichtung vermutlich nicht erspart und er müsste mit fremden Erwachsenen sich ein Zimmer in der Sammelunterkunft teilen.
Wäre Jesus ein jugendlicher Flüchtling, so würde bei der Feststellung seines Alters durch staatliche Behörden vielleicht nicht ganz so genau hingeschaut werden – mit weitrechenden Folgen: Denn viele Kinder kommen ohne Ausweispapiere. Sie sind vielleicht 14 Jahre alt, sehen aber aufgrund dessen, was sie erleben mussten, schon älter aus. Schnell werden sie auf 16 geschätzt und dann wie 18-jährige behandelt. Denn als Flüchtlingskind wird man in Deutschland mit 16 Jahren im Asylverfahren bereits wie ein Volljähriger behandelt und hat keinen Anspruch auf besonderen Schutz des eigenen Kindeswohls.
Auch eine spezielle Rechtsberatung würde Jesus dann wohl nicht bekommen. Vielmehr müsste er selbst sein Asylverfahren betreiben und im juristischen Dschungel aus Regelungen und Gesetze darauf achten, dass Fristen eingehalten werden. Während sein Antrag bearbeitet wird, stünde ihm nur eine Unterstützung nach dem so genannten Asylbewerberleistungsgesetz zu, die 1/3 niedriger ausfällt als der entsprechende Hartz IV-Satz.
Zur Schule dürfte er nicht gehen, geschweige sich einen Ausbildungsplatz suchen. Nur bei ganz akuten Notfällen bekäme er eine medizinische Behandlung. Und wenn sein Asylantrag am Ende abgelehnt wird, könnte Jesus als minderjähriger Flüchtling sogar in Abschiebehaft genommen werden. Im Gefängnis, behandelt wie ein Verbrecher, dessen einziges Vergehen es ist, in Hoffnung auf Sicherheit und Schutz nach Deutschland geflüchtet zu sein.
All das sollte nicht denkbar sein und geschieht doch immer noch und immer wieder in unserem Land. Kinder haben grundlegende Rechte wie das Recht auf Schule, Gesundheit oder Familie. Diese Rechte sind aufgezählt in der Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, wie sie schon 1989 angenommen wurde. Auch Deutschland hat sie unterschrieben – aber mit Einschränkungen, dem so genannten „Ausländervorbehalt“. Vor allem Flüchtlingskinder sind dadurch benachteiligt, im Asylverfahren und im täglichen Leben werden ihnen viele Rechte durch die deutsche Verfahrenspraxis vorenthalten. Zwar hat die Bundesregierung im Mai 2010 formal die Einschränkungen zurück genommen, aber gleichzeitig erklärte sie, dass es keinen Grund gäbe, am bestehenden Umgang mit Flüchtlingskindern etwas zu ändern. Und so bleibt alles beim Alten und die Situation dieser Kinder ist weiter sehr schwierig.
Dabei haben doch gerade sie ganz besondere Aufmerksamkeit verdient. Sie kommen aus Ländern, in denen ihre Rechte massiv verletzt werden, in denen Krieg und Terror herrschen, in denen sie kaum eine Zukunftsperspektive haben. Jetzt sind sie in einem fremden Land. Sie wissen nicht, was aus ihnen werden soll. Und es sind viele. Etwa 16.000 Kinder warten in Deutschland auf ihre Entscheidung im Asylverfahren. Und 24.000 Kinder sind lediglich „geduldet“, d.h. sie sind ständig von der Abschiebung bedroht und können mit oder ohne Eltern jederzeit in Abschiebehaft geraten.
Wie aus Protest gegen ihre Behandlung durch die Behörden sagt Jesus: „Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes.“ Lasset sie kommen, lasst sie Schutz finden und Zuflucht. Da scheint sie wieder auf, die Verheißung der ganz anderen Wirklichkeit Gottes, in der eben gerade jene einen Platz haben, die in der Gesellschaft am wenigsten zu melden haben. Entrechtete, und Stumm gemachte; solche ohne große Lobby, mit denen man nicht schnelles Geld verdienen kann. „Lasst die Kinder zu mir kommen.“ Auch Flüchtlingskinder gehören dazu. Auch sie dürfen kommen und sollen mit offenen Armen aufgenommen werden.
„Ihnen gehört das Reich Gottes.“ Mehr noch: Die Kinder haben in den Worten Jesu eine doppelte Bedeutung. „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.“ Zum einen werden die Kinder zum Maßstab für die Erwachsenen: Wie sieht es eigentlich aus mit der Bereitschaft der Großen, sich auf die göttliche Wirklichkeit einzulassen? Unvoreingenommen, mit weitem Herzen und ungeteilter Aufmerksamkeit, wie sie oftmals nur von Kindern geschenkt wird – so sollen sich auch die Erwachsenen, die Auf- und Abgeklärten für die gute Nachricht öffnen: Ja, Gott nimmt die Menschen an. Ja, Gott liebt sie so sehr, dass er ihnen gleich wird, als Mensch geboren – in einem Kind! An den Kindern sollen sich die die Großen, übrigens auch die Jünger Jesu, ein Beispiel nehmen.
Aber damit nicht genug. Jesu Worte lassen sich auch so verstehen, dass unser Umgang mit den Kindern selbst zum Maßstab des Gottesreiches wird. Mit anderen Worten: „Wer das Reich Gottes nicht so empfängt, wie er ein Kind empfangen würde, der wird nicht hineinkommen.“ Also in dem Maße, wie eine Gesellschaft mit den Kindern umgeht, spiegelt sich die Präsenz Gottes wider. Wo Kindern die Wahrnehmung ihrer Rechte ermöglicht wird und allen Kindern unabhängig von ihrer Herkunft und Sprache, unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus ein Platz für gelingendes Leben geboten wird, da ist das Reich Gottes spürbar!
Das verpflichtet uns und unsere Gesellschaft dafür zu sorgen, dass auch Flüchtlingskinder, die ohne Eltern nach Deutschland kommen, eine an ihre Bedürfnisse angepasste Anlaufstelle vorfinden. Der Vorrang des Kindeswohls muss im Aufenthaltsrecht und im Asylrecht verankert werden. Diese Kinder dürfen auch nicht in Abschiebungshaft genommen werden. Wir müssen allen Kindern, die in unserem Land aufwachsen, die gleichen Rechte und Chancen geben, ihnen eine angemessene Grundversorgung und den Zugang zu Ärzten und Bildung ermöglichen.
Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes. Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Im Klang dieser Worte erscheint die Adventszeit noch einmal in ganz anderem Licht. Jedes Jahr im Advent bereiten wir uns auf die Ankunft des göttlichen Kindes vor, damit wir es mit offenen Armen empfangen und mit ihm das Reich Gottes.
Diese enge Verbindung zwischen Kindeswohl und Himmelreich ist ein wichtiger Grund, weshalb sich die Kirchen zusammen mit vielen anderen Organisationen dafür einsetzen, dass sich die Lage der Flüchtlingskinder in Deutschland verbessert. Die Anpassung der Gesetze und umfassende praktische Veränderungen im Umgang mit diesen Kinder sind nötig, damit auch sie – ganz unabhängig von ihrer religiösen Prägung – etwas spüren können von dem Glanz des Weihnachtsfestes. Damit die „Lichtlein“ des Advents auch in ihren Augen strahlen können.
Amen.