Wieder einmal steht er vor meiner Tür. Es regnet und die Tropfen klatschen auf seine sowieso schon nasse Jacke. Walter, der Bettler, ist wieder da und schaut mich vorwurfsvoll und bittend zugleich an.
Einmal die Woche kam Walter in den letzten Monaten vorbei, um sich die obligatorischen zwei Euro abzuholen, die wir als Kirchengemeinde für jeden Wohnsitzlosen bereithalten. Zwei Euro pro Woche – das ist nicht viel und das meiste davon geht für Alkohol drauf. Walter, der Bettler, ist also wieder da. Und er will diesmal ein bisschen mehr haben. „Weil doch Ostern ist.“
Tag für Tag stehen Leute wie er vor dem Pfarrhaus und halten die Hand auf. Obdachlos, arbeitslos, meistens auch ohne Familie haben sie ihr Hab und Gut auf einem Fahrrad immer bei sich, sorgfältig in Plastiktüten verstaut. Und nicht nur in Seligenstadt, überall im Land werden es immer mehr, die zusätzliche finanzielle Hilfe brauchen – und wenn es nur zwei Euro sind.
Ich schaue Walter an und betrachte sein Äußeres. Verwahrlost ist noch gelinde ausgedrückt. Die Haare sind zerzaust und ungewaschen. Ein unangenehmer Geruch geht von ihm aus. Ich kann und will mir gar nicht vorstellen, unter welchen hygienischen Bedingungen er haust – irgendwo unter freiem Himmel.
Armut hat viele Gesichter, so sagt man. Und Walter ist eines davon. Während wir so draußen stehen und über die Höhe der österlichen Spende verhandeln, kommt mir ein Vers aus der Bibel in den Sinn: „Selig sind die Armen“ Das sagt doch Jesus in der Bergpredigt. „Selig sind die Armen, denn ihrer ist das Himmelreich.“
Jetzt, von Angesicht zu Angesicht mit Walter klingt für mich diese Verheißung irgendwie unanständig. Selig sollen die sein, die so sind wie er? Die arm sind? Die nichts mehr haben? Oder zumindest die nicht genug haben, um damit große Sprünge zu machen.
In unserem Land gilt ja offiziell als arm, wer weniger als 60% eines monatlichen Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat, also etwa 730 Euro. Das klingt ja noch nicht so schlimm, verglichen mit der globalen Armutsgrenze der Vereinten Nationen: Wer weniger als einen Dollar am Tag verdient, wird weltweit als arm bezeichnet. Das kann ich mir schon eher vorstellen.
Selig sind die Armen. Ich frage mich, warum Jesus das sagt. Warum preist er die Mittellosen glücklich? Vielleicht, weil sie nicht so viele Dinge haben, die sie ablenken von einem Leben im Glauben? Spielkonsolen, Autos, Handys, Heimkino, Urlaubsreisen, Schmuck, Theater, Wellness und sonstige teure Hobbys wären dann also nichts für gute Christinnen und Christen?
Das kann es nicht sein! Das wäre zynisch den Armen gegenüber. Denn sie sind ja nicht aus frommer Absicht arm, sondern nur, weil sie nicht anders können. Oder geht es darum, dass sie für ihr armseliges Leben entschädigt werden mit himmlischem „Saus und Braus“ irgendwann später einmal, am Sankt-Nimmerleins-Tag? Nein, das klingt auch nicht nach Jesus, der die Menschen doch immer wieder dazu ermutigt, ihr Leben jetzt und hier in die Hand zu nehmen und dafür zu sorgen, dass es noch vor dem Tod gelingt.
Walter lächelt zahnlos. Wir haben uns geeinigt, er bekommt ein bisschen mehr für die Feiertage – weil ja Ostern ist. Mit einem seltsamen Gefühl gehe ich wieder in mein warmes und trockenes Büro. Die Frage bleibt: Was findet der Heiland nur an den Armen so aufregend, dass er sie glückselig preist?
Also schlage ich die Bibel auf und befrage das Original: Im fünften Kapitel des Matthäusevangeliums werde ich fündig. Aber halt: Da steht ja noch etwas anderes, ein zusätzliches Wort:
„Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich.“
Dieses kleine Wörtchen verändert die Lage gewaltig. Denn geistliche Armut, die kenne ich auch und ich vermute, dass ich nicht der einzige bin. Ein Gefühl von geistlicher Armut überkommt mich manchmal, wenn ich allzu fromme oder gelehrte Reden höre. Ausgefeilte Predigten, die mir allerlei schlaue Dinge über Jesus Christus und über Gott erzählen. Dann sitze ich manchmal so da und staune, aber das Glauben fällt mir dadurch nicht leichter.
Oder wenn ich manche Bibeltexte lese, die mir völlig fremd vorkommen, die völlig an meiner Wirklichkeit heute vorbei gehen. Dann fehlt mir schlicht der Glaube. Dann kann ich nicht nachvollziehen, was es mit diesem Gott der Bibel auf sich hat und wie andere Menschen so intensiv an ihn glauben können.
Ich erinnere mich: Das sind unangenehme Momente, da fühle ich eine gewisse Leere in mir, da bin ich wie ein Analphabet, der das Buch des Lebens vor sich hat, sozusagen religiös unmusikalisch. Und es geht mir nicht gut dabei, denn ich möchte ja gerne glauben und verstehen und Kraft bekommen. Aber es klappt dann einfach nicht.
Geistliche Armut, so meine ich, ist die unerfüllte Sehnsucht nach einem Sinn und nach einem unerschütterlichen Glauben, der auch in schweren Krisen trägt. Denn wenn es gut läuft im Leben, wenn wir verschont werden von emotionalen oder materiellen Schwierigkeiten, dann ist diese Sehnsucht oft nicht so stark zu spüren.
Aber wenn das eigene Leben in Schieflage gerät, wenn eine Krankheit kommt, der Job verlorengeht oder die Beziehung zerbricht, dann sind die Fragen da: „Gott, warum ausgerechnet ich? Warum ausgerechnet jetzt?“ Und wie schnell kann sich zu einer emotionalen und wirtschaftlichen Armut dann auch eine geistliche Armut hinzugesellen?
Materielle Armut und geistliche Armut haben mehr miteinander zu tun, als wir vielleicht denken. Es ist sicher kein Zufall, dass das Lukasevangelium in seiner Version der Seligpreisungen nur die Armen nennt. Ich blättere weiter in der Bibel und tatsächlich: Dort bei Lukas heißt es nur „Selig sind die Armen“! Und diese klaren Worte haben eine ganze Theologie beeinflusst. Lange hat man von der „Option Gottes für die Armen“ gesprochen. Damit konnte man die christliche Hilfe für den benachteiligten Teil der Weltbevölkerung begründen.
Gott liebt die Armen, das hat Tradition. Schon im Ersten Testament der Bibel gelten die Armen als besonders von Gott angenommen. Ihnen gehören die Verheißungen der Propheten. Und in den Psalmen wird die Armut als ein Komplex beschrieben, in dem sich geistliche und wirtschaftliche Not gegenseitig bedingen. Dann wird Gott angerufen als Hilfe in der vielfachen Armut.
Aber das eine schließt das andere nicht aus. Natürlich gibt es geistliche Armut ohne materielle Nöte genauso wie es auch einen ganz unspirituellen Bankrott gibt. Jesus jedenfalls hat auch ein Herz für die geistlich Armen, für die mit der unerfüllten Sehnsucht nach Sinn und Glauben. Er setzt etwas dagegen. Er verheißt ihnen: Glücklich seid ihr, die ihr mittellos seid auf dem Weg des Glaubens, die ihr nichts in euren Taschen habt vor Gott. Denn damit seid ihr bei Gott an der richtigen Adresse. Dadurch seid ihr offen für das, was Gott noch mit euch vorhat.
Martin Luther, der Stammvater des Protestantismus, soll auf seinem Sterbebett gesagt haben: „Wir alle sind Bettler, das ist wahr.“ Und mit dieser Überzeugung hatte er die Welt verändert. Gegen allen geistlichen Popanz und religiösen Machbarkeitswahn der Kirche seiner Zeit. Gottes Liebe und Vergebung gegen Geld? Nein Danke.
Wir alle sind Bettler, das ist wahr. Und wir stehen mit leeren Taschen vor der Tür Gottes. Das Haus sieht freundlich und behaglich aus. Aus dem Schornstein steigt sanfter Rauch auf, irgendwo erklingt ein Kinderlachen. Sollen wir klingeln? Was ist, wenn niemand aufmacht? Zuerst mal müssen wir uns selbst klarwerden, dass wir bedürftig sind. Es ist unangenehm, sich das bewusst zu machen. Dass wir mittellos dastehen, mit allen unseren Zweifeln und Fragen. Aber dadurch sind wir auch offen und bereit, uns helfen zu lassen – nicht nur mit zwei Euro, sondern mit einem guten Wort, ja mit einer Verheißung.
Und auch wenn der Regen uns ins Gesicht tropft – plötzlich trauen wir uns doch zu klingeln. Und in genau diesem Moment öffnet sich die Tür: „Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich.“
Amen.