Laufen ist gesund, heißt es. Ich für meinen Teil laufe gern. Seit Studienzeiten schnüre ich, wann immer es geht, die Laufschuhe und mache mich auf. Die Luft ist frisch, ich puste durch und komme schnell in den vertrauten Rhythmus. Beine und Arme, sie bewegen sich ganz wie von alleine, präzise aufeinander abgestimmt. Ich atme regelmäßig und ruhig. Wie es sich eben für einen Ausdauersportler gehört. So laufe ich dann bei uns durchs Feld hindurch zwischen großen Windenergieanlagen.
Vielleicht geht es manchen von Euch ähnlich: Wenn ich laufe, bekomme ich den Kopf frei. Dann fallen die Sorgen von mir ab, die vielen Fragen des Alltags werden kleiner. Gedanken, die sich manchmal nur im Kreis drehen, bekommen Auslauf. Ja, wenn ich laufe, öffnet sich der Horizont – vor meinen Augen und in meinem Kopf. Dabei laufe ich nicht im Wettkampf mit anderen. Sondern nur für mich.
Mein Tempo, mein Rhythmus, das bestimme ich. Je nachdem, wie ich gerade drauf bin, was ich leisten kann, was Körper und Geist hergeben. Denn beim Laufen muss man sich seine Kraft einteilen. Nicht zu viel verausgaben auf den ersten Metern, bloß nicht zu schnell starten. Und man braucht einen langen Atem, ein Ziel vor Augen und eine Ahnung, wo man lang laufen muss, um heile anzukommen. Und gar nicht so selten ist beim Laufen der Weg schon das Ziel.
Der Apostel Paulus, mit dem wir es heute zu tun haben, war auch ein Läufer. Zumindest kennt er den Sport unter Wettkampfbedingungen und er benutzt Bilder daraus, um das Leben im christlichen Glauben zu beschreiben. Hören wir noch einmal, was Paulus der Gemeinde in Korinth schreibt:
Wisst ihr nicht, dass die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt. Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen. Ich aber laufe nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt, sondern ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde. (1. Kor 9,24-27).
Dieses Bild spricht mich an. Für Paulus ist das Leben als Christ wie ein Wettkampf. Und die Christen sollen laufen, als wollten sie gewinnen: Alles geben, sich nicht schonen, sondern kämpfen, ja sogar den eigenen Körper mit hartem Training bezwingen.
Starke Worte, die der Apostel da wählt. Aber es ist auch viel los in Korinth, da werden solche Worte und Bilder gebraucht. Korinth – diese Gemeinde ist eine der ersten, die Paulus gegründet hat. In der wuseligen Hafenstadt leben Juden und Griechen, Römer und andere Völker zusammen, Multikulti mit allen Vor- und Nachteilen.
Auch in der christlichen Gemeinde gibt es eine bunte Mischung von Menschen verschiedener kultureller und religiöser Herkunft. Manche kommen aus der jüdischen Tradition, andere aus der griechischen mit ihren vielen Göttern und Legenden. Sie diskutieren lebhaft miteinander:
Wie ist das mit dem Leben als Christ? Was zählt im Leben, wenn zum Beispiel die jüdischen Gesetze nicht mehr für einen gelten?
Und was hält die Gemeinde zusammen, was verbindet den so bunt zusammengewürfelten Haufen?
Klar ist heute wie damals: Christen müssen einen langen Atem haben. Ihr Ziel liegt in der Ewigkeit. Und die kann dauern. Paulus sagt es so:
Die Profisportler laufen um die Wette, um einen „vergänglichen Kranz“ zu erringen, also so etwas wie die heutige Goldmedaille oder den Weltmeistertitel. Christen aber laufen, um einen unvergänglichen Kranz zu gewinnen. Etwas, das bis zur Ewigkeit bleibt, das weder welk wird, noch schwarz anläuft: Es ist die Liebe Gottes, das zentrale Stück der christlichen Botschaft!
Diese Liebe vergeht nicht und sie macht frei, nicht gegeneinander zu laufen, sondern miteinander und manchmal sogar füreinander. Da braucht es keine anderen Gesetze oder Vorschriften. Im christlichen Glauben laufen, pardon: leben wir als Gemeinde miteinander, durch die Liebe Gottes.
Das große Vorbild dafür: Jesus. In ihm ist Gott Mensch geworden. Der Allmächtige macht sich klein und angreifbar, aus purer Liebe gegenüber seinen Geschöpfen. Wer Jesus begegnet, kann etwas davon spüren. Irgendetwas hat dieser Menschensohn an sich, der so herrlich frisch und frei daherkommt:
Er räumt auf mit alten Vorstellungen, die die Leute nur noch aus Gewohnheit befolgen, ohne zu wissen, wofür und wozu.
Jesus überwindet die Grenzen zwischen Völkern und Gruppen, in seinen Gleichnissen wie dem vom barmherzigen Samariter, aber auch ganz konkret: indem Menschen ihm begegnen und heil werden – ganz gleich, aus welcher Gegend sie kommen oder welche Sprache sie sprechen.
Manchmal verstören seine Worte auch. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg haben wir vorhin gehört. Das ist nach gängigem Gerechtigkeitsempfinden starker Tobak. Und so wie dieses Gleichnis gibt es ja viele Bilder und Geschichten, die Jesus den Leuten erzählt, um ihnen zu zeigen: Das Himmelreich ist ganz anders, als ihr denkt. Ja, Gott ist ganz anders. Gott tickt anders und daran muss man sich erst einmal gewöhnen. Das ist nicht immer leicht.
Genau das schreibt Paulus den Korinthern. Gott ist anders, als ihr bisher dachtet und wie ihr es vielleicht durch eure Erfahrungen in dieser Welt erwartet habt. Er schenkt uns den ewigen Siegeskranz, für den wir laufen.
Das Bild vom Läufer hat ja viele Facetten. Ich weiß nicht, welcher Läufer Euch dabei in den Sinn kommt. Denkt Ihr da eher an den Sprinter über hundert Meter oder an den Marathonläufer? Vielleicht ist es bei manchen auch ein Hürdenlauf? Oder man denkt an Läufer so wie einst Paavo Nurmi, „der fliegende Finne“. Seine 24 Weltrekorde sind einmalig in der Geschichte des Laufens. In Berlin ist sogar eine Grundschule nach ihm benannt. Er hatte den langen Atem und konnte sich seine Kraft gut einteilen.
Also ich habe eher so eine Langstrecke vor Augen. Auch wir brauchen genau diesen langen Atem. Denn manchmal kann man als Christ ganz schön ins Schwitzen kommen. Zum Beispiel mit meinem Glauben an das Gute im Menschen komme ich ins Schwitzen. In einer Zeit, wo Meldungen über Terroranschläge immer mehr Angst und Misstrauen säen. Meine Hoffnung auf einen tieferen Sinn in dieser Welt kommt ins Schwitzen, wenn ich höre, dass eine junge Mutter von zwei Kindern unheilbar krank ist. Und mein Gerechtigkeitssinn kommt ins Schwitzen angesichts der vielen Menschen, die in diesen Tagen ihre Heimat verlassen müssen und vor Bürgerkrieg und Hunger fliehen. Da ist der lange Atem eines trainierten Läufers nötig, um nicht ganz vom Glauben abzufallen und das Ziel aus den Augen zu verlieren.
Ach ja, das Ziel. Was war das doch gleich? Es ist diese menschgewordene Liebe Gottes, die radikal ist und konsequent. Konsequent ist Jesus geblieben bis zum Letzen, bis an Kreuz. Aus Liebe für diejenigen, die ihm besonders am Herzen liegen. Die Ausgegrenzten und fremd Gemachten, die leicht Verrückten und sozial Auffälligen, die keine besondere Lobby haben und für die einzutreten wohl keinen Karrieresprung verspricht.
Da ist unser Gott manchmal ein bisschen eigen und geht Wege, die nicht immer den Erwartungen des Establishments entsprechen.
Die Erzählung von Weihnachten beschreibt ja so eine Aktion: Alle Welt wartet auf die Ankunft eines Königs und Gottessohnes. Weise und Mächtige aus fernen Ländern machen sich auf, um ihm zu huldigen. Und dann bekommt Maria ihr Kind im Viehstall! Gottes Liebe geht eigene Wege.
Gottes Liebe. Auf dieses Ziel hin laufen wir als Christinnen und Christen. Wie gesagt, ein schönes Bild. Aber an einer Stelle hinkt der Vergleich: Denn ist es ja nicht so, als könnten wir die Liebe Gottes gewinnen wie einen Siegeskranz, wie eine Goldmedaille. Gerade auch Paulus ist das immer ganz wichtig zu betonen: Man kann Gottes Liebe und einen Anteil am Himmelreich nicht erwerben, weder durch ein besonders gottgefälliges, frommes Leben, noch durch andere Höchstleistungen.
Die Liebe wird uns Menschen geschenkt. Paulus nennt das „Gnade“. Und da kommen wir wieder zu den Zeitarbeitern im Weinberg: Nach und nach dürfen sie alle ran. Jeder macht seinen Job. Die einen den ganzen Tag und die anderen nur eine knappe Stunde bis Feierabend. Dann bekommen sie aber alle den gleichen Lohn. Das ist schon allerhand! Sie kriegen nicht das, was sie verdienen. Nicht das, was ihnen tariflich zustehen würde, also fair abgerechnet je nach Arbeitszeit und Qualifikation. Sondern: Sie bekommen das, was sie zum Leben brauchen. Gottes Liebe lässt sich eben nicht rationieren. Alle bekommen das Gleiche. Alle, die im Stadion des Lebens laufen, bekommen in diesem Sinne einen gerechten Lohn. Allein aus Gnade – sola gratia, so nennt Martin Luther das.
Paulus hat wohl selbst gemerkt, dass sein Bild vom gewonnenen Siegeskranz schief wird. Denn er räumt ein, dass er – im Gegensatz zu den anderen Läufern in der Kampfbahn – nicht „aufs Ungewisse“ läuft. Es ist ja schon alles gewonnen – nicht von uns, sondern für uns.
Indem Jesus konsequent der göttlichen Liebe treu geblieben ist, bis zum Kreuz, ist der Tod besiegt und das ewige Leben, der unvergängliche Siegeskranz, gewonnen. Darauf gehen wir zu mit der vor uns liegenden Passionszeit.
Wir laufen nicht aufs Ungewisse, aber wir laufen mit offenen Augen durch unser Leben und diese Welt. Im Vertrauen darauf, dass Gott für uns den unvergänglichen Siegeskranz schon gewonnen hat, können wir befreit loslaufen.
Jeder von uns ein kleiner Paavo Nurmi.
Amen.