31. Oktober 2016: Wie jedes Jahr steht auch heute das Fest an: Die Menschen bereiten sich vor, putzen sich heraus. Meistens abends geht es los, ein Gedenktag der besonderen Art. Egal ob in der Stadt oder auf dem Land: Überall machen sich Leute auf den Weg. Sie singen die bekannten Lieder und auch ein bisschen Herzklopfen ist dabei, wenn sie diese alten Worte sprechen: „Süßes oder Saures!“
Ja, Halloween ist angekommen in unserem Land, unserer Gesellschaft, die so bunt und vielfältig ist, dass ein alter Brauch aus dem katholischen Irland so beliebt wird, dass sogar Pastorenkinder durch die Straßen ziehen. Verkleidet sind sie, meistens ein bisschen gruselig, und sie gehen von Haus zu Haus auf der Suche nach „Beute“ – ein wahrer Segen für den Süßwarenwandel, kurz vor dem Weihnachtsgeschäft.
Szenenwechsel!
31. Oktober 1517: Wie Hammerschläge, die durch die Straßen von Wittenberg hallen, wird gerade Geschichte geschrieben: In der kleinen verschlafenen Universitätsstadt veröffentlicht der weitgehend unbekannte Augustinermönch Martin Luther seine 95 Thesen „gegen den Ablasshandel“. Er wendet sich deutlich gegen die Praxis seiner Kirche, die gegen Geld den Lebenden und bereits Verstorbenen die Qualen des Fegefeuers erlässt.
Das kommt uns heute ziemlich abgefahren vor: Fegefeuer und Ablasshandel, welche Ängste damit verbunden waren, und dass die eine christliche Kirche damals quasi ein Monopol auf das Ewige Leben hatte, das ist heutigen Menschen und gerade auch jungen Leuten nicht mehr zu vermitteln.
Damals aber war das überall gegenwärtig. Man kann das auf alten Gemälden noch nachvollziehen: Die Angst vor dem Jüngsten Gericht, wenn Gott die Menschen entweder freispricht oder zu ewigen Höllenqualen verurteilt. Da hatten die Menschen wirklich Horror vor, das hat ihnen große Nöte bereitet.
Und dann kam da dieser Mönch: Martin Luther hatte selbst gerade erst mühsam herausgefunden, dass es für die Angst vor Gott als dem großen Weltenrichter überhaupt keinen Grund gibt. Er hatte diese Angst selbst am ganzen Leib gespürt und die große Sorge, diesem Gott nicht gerecht werden zu können. Zu fehlerhaft fühlte er sich, zu weit weg von Gott oder mit dem alten Wort: er fühlte sich als Sünder, der es niemals in den Himmel schaffen würde.
Aber er wollte doch so gerne dazugehören zur „Gemeinschaft der Heiligen“.
Deshalb hat er schon sein Jurastudium abgebrochen und mit der Theologie angefangen. Hat intensiv das Neue Testament studiert, ist nach Rom gepilgert. Und dort erlebt er, wie korrupt und skrupellos manche Kirchenvertreter mit dem Seelenheil der Leute umgehen.
Und dann, während Luther den Römerbrief studiert, kommt ihm die Erkenntnis: Gott kann man nicht gerecht werden! Man braucht es auch gar nicht versuchen. Die Menschen gehören zu Gott durch die Liebe. Gott ist nicht gerecht, nein! Gott ist gnädig. Und diese Gnade zeigt sich in der Taufe. „Ich bin getauft!“ – an dieser Zusage hat Luther festgehalten gegen alle Kritik. Das hat er sogar in seine Schreibtischplatte geritzt: Ich bin getauft!
Szenenwechsel!
(Vielleicht der) 31. Oktober im Jahre 55 nach Christus: Paulus sitzt am offenen Fenster. Der Apostel ist gerade in Korinth. Die griechische Hafenstadt vibriert unter dem geschäftigen Treiben auf dem Markt unter seinem Fenster. Viele Menschen, viele Waren! Preise werden gemacht, die Leute bezahlen dafür. Und wer am meisten bietet, bekommt das Beste.
Paulus seufzt und schaut wieder auf seinen Papyrus. Er schreibt gerade seinen Freunden in Rom einen Brief, der Christengemeinde dort in der Hautpstadt des römischen Reiches:
„So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“
Es liegt ihm schon lange im Magen. Immer wieder wollen die anderen, die sich für besonders fromm halten, durch allerlei gute Taten Gott gefallen. Sie denken, dass man dann vor Gott gerecht ist, wenn man nur alle alten Gesetze peinlichst genau einhält. Essensvorschriften und Verhaltensweisen sollen exakt befolgt werden.
Dagegen schreibt Paulus an: Nur durch Christus allein, durch den Glauben an ihn, kann man gerecht werden. Nicht durch besondere Taten, nicht mit besonders vielen Spenden oder vielen Gebeten.
Alles das nützt nichts, wenn man nicht Jesus als den annimmt, der gemeinhin „Gottes Sohn“ genannt wird. Der für die Menschen ans Kreuz gegangen ist, gestorben, begraben und auferstanden. Da ist sich Paulus sicher: Wer Christus annimmt, ist bei Gott angenommen!
Zurück zum 31. Oktober 2016:
Die Kinder laufen wahrscheinlich gerade jetzt, da wir hier in der Kirche sitzen, durchs Dorf. Und ich behaupte jetzt einmal: Sie wissen nichts vom Reformationstag. Geschweige denn von einem Reformationsjubiläum. 500 Jahre Reformation in Deutschland, das ist für sie keine Größe.
Die Kinder wissen nichts von den Höllenqualen, dem Fegefeuer oder von der Erkenntnis Martin Luthers. Sie wissen nichts von dem Ringen des Apostels Paulus mit der halben damals bekannten Welt um die Frage, wie man vor Gott bestehen kann.
Diese Kinder, die draußen jetzt verkleidet auf der Jagd nach Süßigkeiten sind, sie sind nicht nur ein Segen für die Schokoladenindustrie oder die Zunft der Zahnärzte. Diese Kinder sind ein Spiegel der Gesellschaft.
Deutschland, 500 Jahre nach dem Auftreten Martin Luthers (und so vieler anderer Reformatorinnen und Reformatoren in ganz Europa): Dieses Deutschland stellt nicht mehr die Frage nach einem gnädigen Gott.
Deutschland stellt – wenn überhaupt – die grundsätzliche Frage nach Gott. Gibt es einen Gott und wenn ja, ist es der christliche oder der jüdische oder der Allah der Muslime? Oder doch ein ganz anderer? Wer an Gott glaubt als einer höheren Instanz, macht sich heutzutage verdächtig. Religiöse Fundamentalisten sind schließlich zu allem fähig.
Die Fragen von heute lauten:
Gibt es einen Gott, und wenn ja, wieso lässt er so viel Leid auf diesem Planeten zu?
Gibt es einen Gott, und wenn ja, warum verhungern immer noch Menschen?
Warum gibt es Erdbeeben in Italien, skrupellose Präsidenten in der Türkei, Kinderschänder und Mörder?
Warum gibt es den Klimawandel und warum kommen die Menschen mit ihren Regierungen nicht endlich zur Vernunft?
Gibt es einen Gott, und wenn ja, warum leiden so viele Menschen an schweren Krankheiten? Warum gibt es Depression? Und schließlich die größte und zugleich schwierigste Frage: Warum müssen Menschen sterben? Viel zu früh, vor der Zeit?
Puh, das sind gute und sehr berechtigte Fragen 500 Jahre nach Luther. Und wir als Kirchen (und da meine ich nicht nur die evangelischen, sondern auch die römisch-katholischen und die orthodoxen), wir als christliche Kirchen tun gut daran, diese Fragen ernst zu nehmen.
Wir müssen akzeptieren, dass die Menschen nicht mehr wie Luther danach fragen, wie sie einen gnädigen Gott bekommen. Wir müssen stattdessen eher froh sein um alle, die überhaupt nach Gott fragen.
Aber dann, wenn wir das akzeptiert haben und den Fragen nicht schwammig ausweichen, dann können wir bei der gemeinsamen Suche nach Antworten auch das mit einbeziehen, was in der Reformation seit 500 Jahren verstanden wurde, nämlich:
Dass Gott ganz anders ist, als wir Menschen mit unseren Gesetzen des Marktes und unserer Begeisterung für die Leistungsgesellschaft.
Dass wir bei der Suche nach Gott nicht sehnsuchtsvoll in den Himmel schauen müssen. Sondern liebevoll auf unsere Mitmenschen.
Dass wir bei aller Sorge um unser Leben, unsere Familien, Zukunft, Sicherheiten und Einkommen uns daran erinnern, dass wir am Ende unseres irdischen Lebens nichts mitnehmen können.
Dass wir echten Frieden im Herzen nicht durch ungebremsten Konsum und einen „Fast Food“ Lebensstil finden. Sondern manchmal eben im schlichten und einfachen Umgang mit einander und mit unserem Planeten.
Dass weniger manchmal mehr ist. Weniger Pomp, weniger Trara, weniger Showbusiness, weniger Statussymbole.
Was wir dafür mehr bekommen, ist von Mensch zu Mensch so unterschiedlich, dass ich hier nur fantasieren kann:
Entschleunigung statt Burnout, Freundschaft statt Facebook, Gemeinschaft statt Ellenbogen.
Und vor allem eines: Freiheit! Wenn man die Reformation mit einem Stichwort zusammenfassen soll, dann ist es dies. Freiheit.
Es ist die Freiheit, selbst zu glauben, die Bibel in der eigenen Muttersprache zu lesen und selbst direkt zu Gott zu beten.
Die Freiheit, sich freiwillig anderen Menschen“Untertan“ zu machen, also für andere da zu sein.
Und die Freiheit, selbst zu entscheiden, was in unserem Leben jeweils wichtig ist.
Für dich, für mich, für sie und für ihn.
Es ist auch die Freiheit, andere so sein zu lassen wie sie sind. Denn meine Freiheit hängt nicht an anderen, an Gesetzen und Taten, sondern einzig daran, dass ich Jesus vertraue.
Und am Ende, wenn dieses Reformationsjubiläumsjahr dann vorbei ist, können vielleicht auch Evangelische ganz entspannt dem Treiben der Kinder am 31. Oktober zuschauen und sich mit ihnen freuen.
Weil sie wissen, dass die Zuckerschlacht irgendwann geschlagen ist und dann, wenn das letzte Schokobonbon ausgepackt ist, die Fragen nach dieser Welt und ihrer Zukunft immer noch da sind. Und vielleicht, wenn wir Glück haben, die Frage nach Gott ebenso.
Amen.