Nun ist es Weihnachten geworden, der Heilige Abend liegt hinter uns. Das Essen war lecker und wie immer ein bisschen zu üppig. Die Gemeinschaft, das Wiedersehen in der Familie nach langer Zeit hat gutgetan, auch wenn bei manchen vielleicht alte Konflikte wieder zum Vorschein gekommen sind. Geschenke wurden ausgetauscht, haben für glückliche Gesichter oder auch kleine Enttäuschungen gesorgt. Bekannte Lieder wurden gesungen und die alte, längst vertraute Geschichte von der Geburt Jesu gelesen. Ja, der Heilige Abend ist vorbei. Nun sind wir in der Heiligen Nacht angekommen.
Die alten Worte aus dem Lukasevangelium begleiten uns durch diese Nacht. Mir geht es oft so mit Texten, die ich allzu gut kenne, dass ich dabei Einzelheiten gar nicht mehr richtig wahrnehme. Im allgemeinen Strom des Vertrauten fließen die Worte dann so vorbei. Und trotzdem, dieses Jahr, Weihnachten 2016, habe klingen mir ein paar alte Worte so deutlich in den Ohren, als hätte ich sie wie zum ersten Mal gehört. Es sind Worte „Fürchtet euch nicht!“.
„Fürchtet euch nicht!“ ruft der Engel den Hirten über die Felder von Bethlehem zu. Da draußen, in der kalten Nacht ihres Lebens sitzen die Hirten und wärmen sich an dem bisschen Nähe, was ihnen geblieben ist. Kein gesellschaftliches Ansehen, kein Respekt, Abschaum und Schmarotzer werden sie genannt. In einer Gesellschaft der Stärkeren ist für sie kein Platz. Der Alltag kostet Kraft. Und dann die Worte aus dem Nichts: „Fürchtet euch nicht!“ Sie fürchten sich aber sehr. Als ob es nicht schon genug Grund zum Fürchten gäbe, erscheint da plötzlich dieses helle Licht. So ist das manchmal im Leben, wenn es finster ist. Dann kann „leuchtende Klarheit“ einen schon mal in Angst und Schrecken versetzen.
„Fürchtet Euch nicht“ haben die Engel heute gerufen. Überall im Land in den unzähligen Krippenspielen schallt der Ruf über unsere Köpfe. Er verbindet uns mit den Hirten. Ich habe gerade in dieser Woche sehr stark das Gefühl, in der Dunkelheit zu sitzen – und das hat nichts mit den kurzen Wintertagen zu tun.
„Fürchtet euch nicht“, das müssen wir uns von den Kanzeln und Redepulten unserer Kirchen dieses Jahr besonders deutlich sagen lassen angesichts von Terror und Gewalt, Bürgerkrieg und Elend. Dabei wäre es doch mehr als angebracht, sich jetzt zu fürchten. In Zeiten, wo nicht mal mehr ein Besuch auf dem Weihnachtsmarkt selbstverständlich ist.
Das Geschäft mit der Angst hat Hochkonjunktur dieser Tage, nicht erst seit den Ereignissen von Berlin. Menschen fühlen sich abgehängt, in ihrem Wohlstand bedroht. Fremd im eigenen Land, ausgegrenzt, ausgeschlossen, demokratiemüde. Da hat die Furcht leichtes Spiel. Und sie wird größer. Ja, ich habe das Gefühl, sie wächst mit jedem Versuch, ihr rational entgegenzutreten, mit klugen Argumenten, Zahlen, Statistiken. Die Hirten von Bethlehem waren sicher keine Anhänger des Postfaktischen. Sie sitzen in der Dunkelheit, erwarten nichts mehr für sich. Und dann kommt der Ruf: Fürchtet euch nicht!
So banal diese Worte klingen, so schön und Mut machend sind sie. Dabei war es nicht der Weihnachtsengel, der sie sich ausgedacht hat. Fürchtet euch nicht, das ist – wenn man so will – das Motto Gottes für die Menschen. Eine Überschrift über alles, was Gott mit den Menschen und für die Menschen will. Es durchzieht die ganze Bibel, im Alten wie im Neuen Testament. Mal sagen Engel diese Worte, mal die Propheten.
Wie auch der Prophet Jesaja: Denn erstmals aufgeschrieben wurden diese Worte in einer Zeit großer Dunkelheit, als das Volk Israel im Exil in Babylon lebte. Das war 500 Jahre vor Christi Geburt und schon damals war der Nahe Osten alles andere als eine friedliche Gegend. Und genau in dieser Situation von Exil und Bedrängnis, Unsicherheit und Gewalt, ruft der Prophet im Namen Gottes: Fürchtet euch nicht! Fürchtet euch nicht angesichts der Fremden, unter denen ihr jetzt leben müsst. Gezwungen zu einem Leben fernab der Heimat. Der Tempel in Jerusalem, das Zentrum des Glaubens, zerstört und zurückgelassen. Was schafft jetzt Zusammenhalt, was schafft Identität? Was zählt noch? Was bleibt? Grund genug zum Fürchten, damals wie heute.
Fürchtet euch nicht! Mit diesen Worten wird die Furcht in der Bibel ernst genommen, sie wird nicht geleugnet. Furcht ist eine gegebene Tatsache in Gottes Welt. Gründe für sie gibt es viele: Angst vor Überfremdung, vor Bedrohung des Lebens, vor Armut, Hunger und Krieg, Angst vor Katastrophen, vor Streit in der Familie, Trennung und Krankheiten…
Wenn ich so drüber nachdenke, kann einem letztlich alles im Leben Angst machen. In der Bibel wird die Angst erkannt und benannt. „Fürchtet euch nicht“ – das ist weder eine autoritäre Ermahnung, noch eine moralische Forderung. Wo immer diese Worte in der Bibel gesprochen werden, geschieht es zugewandt, voll Mit-Gefühl: „Fürchtet euch nicht, habt keine Angst. Ich bin bei euch!“
Es ist kein Zufall, dass auch der Engel von Bethlehem diese Worte ruft. Gerade hier, in dieser kalten, ungemütlichen Nacht, da Gottes Sohn geboren wird, muss das förmlich gesagt werden. Denn dieses gottbegabte Kind, der Heiland selbst, der menschgewordene Gott wird in seinem irdischen Leben diese Worte „verkörpern“.
Wo immer Jesus auftritt, was immer er auch tun wird, es sind jedes Mal diese Worte, die in ihm Gestalt annehmen:
Er stillt den Sturm, heilt Kranke, Menschenmassen werden bei ihm satt – und sogar am Kreuz nimmt er dem Mitgekreuzigten die Angst.
Jesus ist die menschgewordene Zusage Gottes: „Fürchtet euch nicht, denn ich bin bei euch bis zum Ende der Welt.“
Es ist keine Schande, Angst zu haben in dieser Welt. Aber in Jesus Christus „begegnet“ Gott dieser Angst im wahrsten Sinne des Wortes. Und diese Begegnung hat Folgen, für die Hirten, für uns. Angst ist ja erstaunlich resistent gegenüber allen sachlichen Argumenten. Dieses Gefühl ist so stark, ja manchmal sogar stärker als die Vernunft. Das einzige was dann – vielleicht – hilft, ist Begegnung. Wenn ich dem begegne, was mir in der Vorstellung alleine schon Angst macht, ist dies schon ein Weg, um die Angst zu überwinden.
Auch die Hirten fürchten sich sehr, und sie machen sich trotzdem auf zum Stall! Was sie dort sehen, verändert ihr Leben. Sie werden die ersten, die von der Geburt des Gottessohnes erzählen werden.
Und wir, die wir uns fürchten vor privaten Dingen, im Job, in der Schule, im Familienalltag oder vor der Terrorgefahr unserer Tage? Wenn wir es schaffen, uns selbst zu überwinden und auf diejenigen zuzugehen, vor denen wir uns eigentlich fürchten – Flüchtlinge, Muslime, Menschen, die in irgendeiner Form vermeintlich „anders“ sind als wir – dann hat das Wunder von Bethlehem schon angefangen zu wirken.
Gott kommt und wird Mensch, damit wir endlich auch menschlich werden. Mit dem Kind in der Krippe an unserer Seite kann uns das gelingen. Denn der Anfang ist schon gemacht. In dieser Heiligen Nacht.
Amen.