Die Sache mit der Identität (Mk 14,3-9)

Und als er in Betanien war im Hause Simons des Aussätzigen und saß zu Tisch, da kam eine Frau, die hatte ein Alabastergefäß mit unverfälschtem, kostbarem Nardenöl, und sie zerbrach das Gefäß und goss das Öl auf sein Haupt. Da wurden einige unwillig und sprachen untereinander: Was soll diese Vergeudung des Salböls? Man hätte dieses Öl für mehr als dreihundert Silbergroschen verkaufen können und das Geld den Armen geben. Und sie fuhren sie an. Jesus aber sprach: Lasst sie! Was bekümmert ihr sie? Sie hat ein gutes Werk an mir getan. Denn ihr habt allezeit Arme bei euch, und wenn ihr wollt, könnt ihr ihnen Gutes tun; mich aber habt ihr nicht allezeit. Sie hat getan, was sie konnte; sie hat meinen Leib im Voraus gesalbt zu meinem Begräbnis. Wahrlich, ich sage euch: Wo das Evangelium gepredigt wird in der ganzen Welt, da wird man auch das sagen zu ihrem Gedächtnis, was sie getan hat.

 

Wer bin ich? Diese Frage treibt irgendwann alle Menschen um. Es ist die Frage nach dem selbst, nach dem, was jede und jeden von uns persönlich ausmacht. „Wer bin ich und wenn ja, wie viele“ titelte Richard David Precht, und dieses Buch verkauft sich immer noch hervorragend.

Wer sind wir? Wer bist du? Wer sind Sie? Wer bin ich? Die Antwort darauf ist meistens nicht sehr einfach. Wenn ich über mich selbst nachdenke, kommen mir sehr viele verschiedene Facetten in den Kopf. Da ist der Pastor, Familienvater, Freund, Sohn, Bruder, Musiker, Sportler, Technikfan, Zeitungsleser, Opernmuffel, Jugendlichenversteher und noch einiges mehr.

Das sind alles verschiedene Gestalten,  verschiedenen Rollen, die ich einnehme, und je nachdem, wer mich nur in einer davon erlebt, hat ein doch recht spezielles Bild von mir. Wahrscheinlich geht das nicht nur mir so. Wahrscheinlich kennt Ihr das alle – auch wenn die Rollen andere sind. Wer bin ich? Auf diese Frage gibt es also viele Antworten.

Wer ist Jesus? Das ist wieder so eine Frage nach der „Identität“, wie das heute heißt. Wer ist Jesus? Das haben sich durch die Jahrtausende immer wieder Menschen gefragt. Und wie bei der eigenen Identität, so ist die Antwort darauf auch bei Jesus keine ganz simple.

Die Geschichte von der „Salbung in Betanien“ zeigt das sehr deutlich. Wir haben Sie vorhin als Schriftlesung gehört:

Jesus ist in einem Haus zu Gast. Da kommt diese unbekannte Frau mit einem Glasfläschchen voll Nardenöl. Das ist ein ziemlich teures Kosmetikprodukt. Sie zerbricht den Flaschenhals und träufelt vorsichtig die kostbare Flüssigkeit auf den Kopf von Jesus.  Die Jünger sind entsetzt! Sie haben sofort gesehen, dass hier wertvolles Öl vergossen wird. Nüchtern und rational, wie sie denken, beschimpfen sie die Unbekannte. Was für eine Verschwendung! Das kostet doch einen Jahreslohn als Tagelöhner!

Davon hätte man so vielen Armen  und Bedürftigen helfen können!

Aber Jesus, der hier mal wieder seine Vorliebe für außergewöhnliche Situationen zeigt, ist da ganz anderer Meinung. Er hat verstanden, was die Frau getan hat: Sie wollte ihn salben wie zu einer vorgezogenen Totensalbung. Sie muss es gewusst haben oder zumindest geahnt, was Jesus bevorsteht. Und sie tut, was man aus Liebe tut: Sie schaut nicht auf den Preis! Sie handelt konsequent und tut das Nötige.

Diese Frau – sie bleibt uns unbekannt, aber Jesus verheißt ihr einen bleibenden Platz in der Geschichte: Wo immer man das Evangelium in der Welt predigen wird, da wird man auch von ihren Taten erzählen – „zu ihrem Gedächtnis“. Auch ohne Worte kann man also berühmt werden!

Dies ist eine Geschichte über Identität.

Zunächst ist da Jesus: Noch bevor er seinen letzten Weg geht, der ihn ans Kreuz führt, spielt er viele Rollen. Für die einen ist er der Messias. Der „König der Juden“ – wie es dann auch über dem Kreuz als veralberter Titel stehen wird. Messias ist das hebräische Wort für griechisch „Christos“, der Gesalbte Gottes. Und genau dafür ist die unbekannte Frau auch gekommen: Sie salbt Jesus, gießt kostbares Öl auf sein „Haupt“ – nicht einfach nur auf den Kopf. Zwar deutet Jesus selbst diesen Akt als vorgezogene Totensalbung, und weist damit auf seine Rolle als das letzte Opfer hin, als das viele ihn auch später gerne stilisiert haben. Aber das kostbare Öl der Narde kommt in der Bibel eigentlich immer wieder bei den Königssalbungen vor. Das ist zumindest der Klassiker. Und das ist vermutlich auch der Grund, warum diese Geschichte traditionell an Palmsonntag erzählt und gepredigt wird. Denn der Einzug in Jerusalem erinnert ja an den neuen König Israels, der kommen wird, um sein Reich aufzurichten.

Für viele ist er dieser König. Für die anderen ist Jesus ein Wanderprediger und Wunderheiler. Ein Prophet wie er im Buche steht. Er ist zu Gast im Haus von Simon, dem Aussätzigen. Ein Hinweis auf die Heilungen, die Jesu Weg begleiten. Denn Aussätzige, Kranke, Bline, Lahme, Verzweifelte, säumen seinen Weg. Sie setzen ihre Hoffnung in ihn als den Wunderheiler – und sind oft überrascht, dass es für die Veränderung in ihrem Leben einen anderen Grund gibt als Medizin: nämlich Gottes Liebe.

Und wieder andere sehen in Jesus den Aufständigen, der die Römer mit Gewalt vertreiben wird. Eine Art Robin Hood des Nahen Ostens, der den Armen hilft und die Mächtigen vom Thron stößt. Gerade auch unter seinen Jüngern gibt es da so manche, für die Jesus diese Rolle spielt. Sie sind es, die der unbekannten Frau vorhalten, dass man mit dem Verkauf des Nardenöls doch vielen Armen hätte helfen können. Für ihren Geschmack ist der Meister manchmal einfach echt zu nachsichtig. Und jetzt nimmt er die Frau auch noch in Schutz. Er sollte lieber loslegen und endlich den Aufstand anführen, um Israel zu befreien!

Und Jesus selbst? Ahnt er, dass die Menschen in ihm unterschiedliche Gestalten sehen? Immer genau das, was sie in ihm zu erkennen hoffen? Spürt er, dass er ihnen als Projektionsfläche für ihre Hoffnungen und Wünsche dient? Was meint er selbst?

Er antwortet, in dem er die Frau verteidigt. „Lasst sie, denn sie hat ein gutes Werk getan. Arme habt ihr immer bei euch, der politische Kampf um Gerechtigkeit geht auch ohne mich weiter. Mich aber habt ihr nicht mehr lange bei euch“, sagt er. Und er lobt die Frau: Sie hat getan, was zu tun war, angesichts dessen, was kommt. Was kommen muss.

Der Gottessohn geht seinen Weg weiter. Konsequent, aus Liebe zu den Menschen. Er wird seiner Botschaft treu bleiben, wird nicht widerrufen, weder vor den religiösen Autoritäten, noch vor dem staatlichen Machthabern.

Jesus bleibt dabei: Gott kommt den Menschen in ihm entgegen und nimmt sie an – bedingungslos. Wer Jesus vertraut, muss nicht mehr blind vor Hass sein. Wer ihm glaubt, muss nicht mehr verkrümmt und gebückt durchs Leben huschen. Wer auf ihn hofft, bleibt nicht allein. Wer ihm begegnet, kann als Mensch befreit aufatmen. Dafür hat Jesus sein Leben eingesetzt, das ist sein Auftrag: Er gibt den Menschen Identität. Er erinnert sie an ihr eigenes Menschsein, daran, was alles möglich ist, wenn sie ihre human Seite hervorkehren, wenn sie humanitär leben.

Und ganz praktisch schenkt Jesus der unbekannten Frau Identität. Es klingt paradox: An diese Frau, die in der Geschichte namenlos bleibt, sollen sich alle erinnern, denen das Evangelium gepredigt wird. Denn sie ist das gute Beispiel für gelebte Menschlichkeit. Sie tut das Nötige, aus Liebe. Sie wägt nicht ab, setzt nicht den ökonomischen Nutzen an erste Stelle. Sie verschwendet ihre Liebe, vergießt das Öl und tut damit ein gutes, ein schönes Werk. Sie macht nicht viele Worte (genauer: kein einziges in der Geschichte!), aber es soll immer wieder an sie erinnert werden: DAS ist wahres Menschsein, an dem Gott Gefallen hat.

Wer bin ich? Die Frage bleibt und sie wird immer neu beantwortet werden. Aber eines wird mir an diesem Palmsonntag deutlich: Neben allen verschiedenen Rollen, die wir so spielen und die uns mal mehr mal weniger Spaß machen, ist doch vor allem eines, zu dem wir gerufen sind.

Eines, das uns Jesus vorlebt und auf das wir uns berufen, nicht nur als Christinnen und Christen. Zu allererst sind wir alle: Menschen. Geschöpfe – gemacht aus Lieb und zur Liebe fähig. Gerade in diesen Zeiten zwischen Terrorgefahr, Angst und Unsicherheit ist das eine wichtige Einsicht.

Amen.

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