Nun ist es langsam Abend geworden. Heiliger Abend mit seiner ganz besonderen Atmosphäre! Woher diese Atmosphäre genau kommt, kann ich auch nach all den Jahren immer noch nicht genau sagen. Vielleicht ist es die besondere Zeit im Jahr, die dunklen kurzen Tage, welche die Sehnsucht nach Licht steigen lassen. Vielleicht sind es auch die Erwartungen, die sich im Laufe der Adventszeit immer mehr aufbauen und sich manchmal auch mal negativ in größerer Gereiztheit zeigen?
Oder es ist einfach diese wunderbare Geschichte, die über die Zeit jedes Jahr immer vertrauter wird, bis ich den Wortlaut fast schon auswendig kenne. Die alten Worte und Sätze: „Es begab sich aber zu der Zeit…“
Da werde Erinnerungen an längst vergangene Momente wieder lebendig. All die Jahre, immer wieder aufs Neue diese Geschichte. Zu verschiedenen Zeiten im eigenen Leben, aber auch in der Welt. Ob als Kind, Jugendlicher, als junger Erwachsener, jedes Jahr habe ich die Geschichte gehört und sie hat mich in ihren Bann gezogen.
Ich vermute, es geht nicht nur mir so. Zumindest diejenigen unter uns, die regelmäßig zu Weihnachten in die Kirche kommen, wissen wahrscheinlich, was ich meine.
Die Geschichte ist kunstvoll erzählt. Da ist diese Spannung vom Aufbruch der werdenden Familie bis das Kind endlich heil zur Welt kommt – und dann von äußerst fragwürdigen Gestalten Besuch bekommt.
Aber es beginnt alles mit einem Weg.
So viele Schritte. Schritt für Schritt für Schritt. Der Weg, den Josef und Maria da gehen müssen, ist nicht selbst gewählt, sondern vorgegeben. Von den Mächtigen, von denen, die anderen sagen können, wo es lang geht. Qurinius, Augustus oder wie sie heute heißen mögen.
Denn es begab sich zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde.
Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt.
Da macht sich auch Josef aus Nazareth auf. Ich habe mal nachgeschaut: 153 km sind es von Nazareth bis nach Bethlehem. Fünf Tagesreisen, wenn man jeden Tag 30 Kilometer schafft. Zumindest für die schwangere Maria wäre das ein straffes Programm gewesen.
Von Nazareth im Norden – 290 Meter über dem Meeresspiegel, ein Dorf, in eine Mulde hineingebaut. Nach Bethlehem im judäischen Bergland südlich von Jerusalem.
Du Bethlehem, die du klein bist unter den Tausenden in Juda. So wird die Stadt schon im Alten Testament besungen.
Bethlehem liegt 710 Meter über Normalnull! Den Höhenunterschied müssen sie auch noch bewältigen. Schritt für Schritt für Schritt.
Eins ist klar: Dieser Weg ist beschwerlich, der Weg ist weit. Aber er ist zu schaffen. Auch mit schwangerem Bauch. Vielleicht hatten sie ja sogar einen Esel dabei, der das Gepäck trug oder wahlweise die werdende Mutter. Schritt für Schritt.
Der Weg ist weit. Und er ist nicht frei gewählt. Nein: er ist frei erfunden!
Denn diese Schritte hat es so nie gegeben. Die Geburt in Bethlehem ist eine Legende. Der theologisch-literarische Versuch, die Geburt Jesu aus dem königlichen Geschlecht Davids zu erklären – über die väterliche Linie eines Mannes, der doch gar nicht sein leiblicher Vater war.
Von Nazareth nach Bethlehem – das ist ein Weg, den es so nie gegeben hat. Das ist die Erkenntnis der Bibelwissenschaft. Aber dieser Weg wirkt weiter – bis heute. Denn alle Jahre wieder wird er in den Kirchen bei unzähligen Krippenspielen inszeniert: Denn sie hatten keinen Raum in der Herberge.
Es ist ein Weg, wie ihn noch heute zahlreiche Menschen gehen müssten. Nicht frei gewählt, Schritt für Schritt für Schritt.
Menschen unterwegs, die Heimat hinter sich, Ungewissheit am Horizont.
Das wenige Gepäck wiegt schwer. So manche Schwangere ist auch heute auf diesem Weg, der für viele in einem überfüllten Lager in Griechenland vorzeitig endet.
Der Weg in Sicherheit, gerade für die Kinder, wird nicht gegangen. Die Politik streitet ja momentan, ob die unbegleiteten Kinder von Moria eine Herberge hier bei uns finden könnten oder nicht.
Es sind eben manchmal die Wege, die nicht gegangen wurden, die sich ins Herz einbrennen.
Das gilt auch hier bei uns: Etwa der Weg zum Nachbarn, um endlich den alten Streit aus dem Weg zu räumen. Oder der Weg zu den eigenen Eltern, den man nach dem handfesten Krach bei der letzten Familienfeier erfolgreich gemieden hat. Vielleicht auch der Weg zur Ärztin, mit dem flauen Gefühl, dass da doch was Ernsteres sein könnte. Ach, es gibt so viele Wege im Leben, die nicht frei gewählt sind und auch nicht gegangen werden.
Aber selbst dieser Jesus, von dem Christinnen und Christen glauben, dass er Gott auf eine nie dagewesene Art verkörpert, er ist selbst auf diesen Wegen zuhause. Er kennt das Gefühlt, nicht wirklich auf dem Weg zu sein, den man jetzt eigentlich gehen müsste.
Er kennt das Gefühl, auf der Strecke zu bleiben, verloren irgendwo zwischen den Erwartungen der Menschen und den Sachzwängen der Welt.
Gott wird Mensch! Ja, das feiern wir an Weihnachten. Aber werden dabei auch wir zu Menschen?
Gehen wir die Wege, die es bisher nur in Geschichten oder auf dem Papier gibt? Oder lassen wir Menschen auf der Suche nach Schutz und Sicherheit den Weg zu uns gehen?
Ich vermute, die Krippe von Bethlehem steht heute in Griechenland, mitten in einem überfüllten Flüchtinglingslager. Und an vielen anderen Orten, wo Wege eben nicht gegangen werden.
Aber der Heiland kommt. Kommt auf Wegen, die es nie gegeben hat.
Der Heiland kommt selbst da, wo es gar keine Wege gibt.
Der Heiland kommt. Auch zu uns.